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Vielseitig. Positiv. Aktiv.
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Bewegung
Vielseitig. Positiv. Aktiv.

Bettina Werner
Physiotherapeutin und Mitarbeitern beim Deutschen Verein für Gesundheitspflege (DVG)
Stuttgart, D

Das Miteinander der Gegensätze
Wahrscheinlich haben Sie sich noch keine Gedanken über das Miteinander von Gegensätzen gemacht. Warum auch! Wenn man an Gegensätze denkt, ist das meistens mit einem unsicheren Gefühl verbunden, das uns positionieren will und auf Abwehrhaltung gehen lässt. Dabei ist es erstaunlich, dass wir ganz selbstverständlich in einer Welt von Gegensätzen leben, ohne sie negativ einzuordnen. Es gibt Gegensätze, die für uns völlig normal und akzeptabel sind, die unser Leben bereichern, es bunt und schön machen. Denken Sie einfach an Sommer-Winter, Tag-Nacht, Wasser-Erde, Bewegung-Ruhe, Schwarz-Weiß, Groß-Klein, Laut-Leise, Schnell-Langsam, Lachen-Weinen, Suchen-Finden, Hart-Weich, Rechts-Links, Wachen-Schlafen. Beim näheren Betrachten dieser Wort­paare wird deutlich, dass man nicht einfach in Gut und Schlecht trennen kann. Sie zeigen, dass das Wort «Gegensatz» eigentlich als «Gegenüber», also als Partner zu verstehen ist. Jeder Partner für sich ist wichtig und hat seine Daseinsberechtigung, doch erst im Miteinander, im Team, wird es genial. Aus diesem Blickwinkel heraus ist es interessant, das Miteinander der Gegensätze etwas näher zu beleuchten.

Die Muskel-Teams in unserem Körper
Auch unser Körper funktioniert rund und harmonisch, weil viele Teams miteinander wirken.

Ein solches Team ist unsere Muskulatur. Sie unterteilt sich in zwei Gruppen mit unterschiedlichen Funktionen, in die unwillkürliche und willkürliche Muskulatur.

Die unwillkürliche Muskulatur erhält ihre Impulse vom vegetativen Nervensystem, d.h., sie ist nicht von unserem Willen beeinflussbar und umfasst alle automatisch ablaufenden Bewegungen wie Verdauung, Atmung, Stoffwechsel, Kontraktion der Blutgefäße, Durchblutung der Haut und vieles mehr. Sie übernimmt alle lebenswichtigen Abläufe im Körper, die nicht unterbrochen werden dürfen. Das ist gut so, denn müssten wir ständig an diese Vorgänge bewusst denken, wären wir hoffnungslos überfordert. Das Chaos wäre vorprogrammiert.

Die willkürliche Muskulatur dagegen kann man mit dem Willen beeinflussen und steuern, d.h., sie ist trainierbar. Sie wird auch als Skelettmuskulatur bezeichnet, weil sie am Skelett fixiert ist und in ihrer Gesamtheit die Muskelmasse des Körpers bildet. Sie ist für die Bewegung, d.h. für die Körperstatik und -motorik zuständig.

Ganz einfach ausgedrückt übernehmen die unwillkürlichen Muskeln den Bereich der automatischen Abläufe, die willkürlichen den Bereich des Trainings. Ein tolles Miteinander, finden Sie nicht auch?

Willkürliche Muskeln benötigen Training, um ihre Stärke, Kraft und Beweglichkeit zu behalten. Deswegen ist es gut zu wissen, wie sie arbeiten. Jeder einzelne Muskel kann sich aktiv anspannen, d.h. verkürzen. Das ist seine Arbeit. Allerdings kann er nicht selbst aktiv entspannen, d.h. sich wieder verlängern. Wenn also ein Muskel arbeitet, sich anspannt, könnte dies – genau genommen – nur ein einziges Mal stattfinden, wenn da nicht sein Partner wäre, der ihn in die Länge zieht und so in die Entspannung bringt.

Lassen Sie mich das an einem Beispiel erklären. Der wohl allen bekannte Bizeps ist unter anderem für die Beugung des Ellenbogens zuständig. Er liegt an der Vorderseite des Oberarmes, hat seinen Ursprung am Schulterblatt und setzt unterhalb der Ellenbeuge an der Speiche an. Wäre er allein und hätte keinen Partner, könnte diese Beugung nur ein einziges Mal stattfinden – und das wär’s. Nun gibt es aber den Trizeps, der an der Rückseite des Oberarmes liegt und für die Streckung des Armes verantwortlich ist. Hat der Bizeps die Beugung im Ellenbogen erreicht, ist das für den Trizeps das Signal, sich seinerseits anzuspannen und den Arm wieder zu strecken. Die Beugung des Ellenbogens findet statt, weil jeder der beiden Muskeln zur richtigen Zeit dem anderen seinen Freiraum gibt. Es ist eine ständige Abfolge von Geben und Nehmen in Bruchteilen von Sekunden. Weil beide Muskeln harmonisch «gegeneinander» arbeiten, wird daraus ein Zusammenspiel, und die für uns so wertvolle Bewegung gelingt. Der Schwerpunkt bei diesem Zusammenspiel liegt auf «harmonisch».

«Waschbrettbauch» und krummer Rücken
Einer meiner Söhne hatte als Jugendlicher den brennenden Wunsch, ein tolles Sixpack zu haben. Das heißt, die Bauchmuskulatur ist so gut trainiert, dass die Muskelkonturen zu sehen sind und der «Waschbrettbauch» entsteht. Er trainierte jeden Tag ausdauernd, und nach einer Weile zeigte sich der Erfolg. Allerdings hatte die Sache einen Haken. Da er mit großer Energie seine Bauchmuskeln trainiert hatte, aber ihre «Gegenspieler», die Rückenmuskeln, nicht, war das Ergebnis nicht nur das gewünschte Sixpack, sondern ein unerwünschter krummer Rücken. Er war sozusagen in eine Schieflage geraten. Also musste er erst eine Weile Rückenmuskelaufbau betreiben, um wieder geradegerückt zu werden.

Schieflagen
Vielleicht schmunzeln Sie darüber, aber gibt es im Leben nicht viele solcher Situationen, in denen man in Schieflage geraten kann? Sehr oft sind es Ereignisse oder Dinge, die an sich sehr gut sind – wie der Beruf, die Familie, Freunde, Geld, Hob­by und noch vieles mehr. Sie sind wichtig, und wir brauchen sie. Doch in jedem Bereich wird es kritisch, wenn sich die Ausgewogenheit verschiebt und ein Teil zu dominant wird. Ganz besonders deutlich wird das im Mitei­nander von Bewegung und Ruhe, Anspannung und Entspannung. Hier scheint alles komplett durcheinandergeraten zu sein. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es zwar viel Bewegung, Schnelligkeit und Abwechslung gibt, aber leider nur im technischen Bereich. Auto, Fahrstuhl, Rolltreppen und Co. übernehmen für uns die Aktivität und bringen uns in kürzester Zeit von A nach B, um den eng gesetzten Zeitplan einhalten zu können. Die Zeit ist kostbar. Darum hetzen wir mehr oder weniger durch den Alltag, um alles unter einen Hut zu bringen, sind ständig auf Achse und bewegen uns dabei doch erschreckend wenig. Wir haben kaum Bewegung, aber auch kaum Ruhe.

Am Wissen fehlt es uns nicht
Wir wissen, dass wir uns eigentlich mehr bewegen müssten. Wir wissen, dass dadurch das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, hohem Blutdruck, Diabetes oder Depressionen sinkt, die Schlafqualität verbessert und die Stressanfälligkeit verringert wird. Doch dieses Wissen motiviert uns ebenso wenig wie die Angst vor möglichen Erkrankungen. Warum?

Wie oft wird uns geraten, Bewegung als Aktivität in unseren Tageszeitplan aufzunehmen, sozusagen als Hilfe, um uns überhaupt zu bewegen! Auch ich habe es schon oft empfohlen und frage mich doch, ob es wirklich das ist, was uns bewegungsfreudiger werden lässt. Könnte es sein, dass mit unserer Auffassung von Bewegung an sich etwas in Schieflage geraten ist?

Viele meinen, Bewegung sei mit Sport gleichzusetzen. Das vermittelt Leistungsdruck: Etwas tun zu müssen, wozu man keine Lust, keinen Schwung und keine Kraft hat. Unser Alltag hat so viel mit Verpflichtungen zu tun, dass wir nicht auch noch in unserer freien Zeit «müssen» wollen.

Ich denke, wir haben schlichtweg verlernt, Bewegung als etwas Schönes zu sehen.

Bewegung hat etwas mit Erleben, mit Entdecken und Abenteuer zu tun, nicht mit eintönigen Bewegungsabläufen und abzuarbeitenden Leistungsplänen.

«Dürfen», nicht «müssen». Ideen muss man haben!
Stellen Sie sich vor, Sie würden in Ihrem Leben Bewegung mit «dürfen» verknüpfen, Spaß, Freude und Kreativität hinzufügen und einfach loslegen – ohne exakt aufgestellten Trainingsplan. Es gibt so viele Formen körperlicher Betätigung, die den Alltag schwungvoll aufpeppen und Lust auf mehr machen, wenn wir in ihrer Einfachheit das Besondere erkennen.

Denken Sie z. B. an Ihren Arbeitsweg! Steigen Sie auf dem Heimweg ein paar Haltestellen eher aus und gehen Sie zu Fuß nach Hause! Sie können Abkürzungen und Schleichwege wählen und dabei Dinge entdecken, an denen Sie sonst mit Auto, Bus oder Bahn einfach vorüberfahren. Sie können sogar stehenbleiben und etwas anschauen, ohne dass Sie von hinten mit Hupsignalen aufgefordert werden, sich endlich weiterzubewegen. Wie wäre es, wenn Sie einmal pro Woche Ihren Heimweg von der Arbeit auf diese Weise erlebten?

Und wer sagt denn, dass man Treppen immer vorwärts hinaufsteigen muss? Versuchen Sie doch ab und zu, sie rückwärts hochzugehen! Es geht nicht so schnell wie das Gewohnte, dafür ist es spannend. Sogar die Sichtweise ändert sich: Man sieht nicht die vielen Treppenstufen, die man noch hochsteigen muss, sondern die Stufen, die man schon geschafft hat.

Hand aufs Herz! Wann haben Sie das letzte Mal Ihre Schuhe und Socken ausgezogen und das Gras unter Ihren Fußsohlen gespürt? Wann sind Sie über kleine Steinchen balanciert oder durch den Sand gestapft? Gehen Sie mit Ihren Füßen auf Entdeckungstour! Sie können schleichen und tapsen, hopsen und hüpfen, auf Zehenspitzen gehen und lange Schritte machen, rennen und stehen, auf einer Wiese herumtollen und im Regen stehen, übers Eis gleiten und durch Blätter rascheln.

Entdecken Sie Ihren Alltag mit Neugier und Fantasie!
Sie meinen, dafür hätten Sie keine Zeit oder Sie seien zu alt für so etwas? Nun, dann möchte ich Sie an den Anfang des Artikels erinnern. Erleben Sie das Miteinander von Gegensätzen, die Harmonie der verschiedenen Bereiche: ernst – spaßig, denkend – ausgelassen, realistisch – neugierig, genau – kreativ, ruhig – aktiv!

Probieren Sie es aus: Machen Sie den Alltag zu etwas Wunderbarem! Ihr Leben wird reich, stark, bunt, schön und bewegt sein. Vielseitig. Positiv. Aktiv.

 

 

 

 

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