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Bröckelnde Bande
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Beziehungen
Bröckelnde Bande

Wie Beziehungserosion unser Miteinander und unsere Gesundheit gefährdet.

Günther Maurer
Gesundheitsberater und Seelsorger

Warum Nähe heute so oft verloren geht – und wie wir sie zurückgewinnen können
Zwei Menschen sitzen nebeneinander auf dem Sofa. Beide starren auf ihr Smartphone. Kein Wort, kein Blick. Was einst Nähe war, ist Routine geworden – und irgendwann Distanz. Dieses stille Zerbröckeln von Beziehungen geschieht nicht nur im Wohnzimmer, sondern auch zwischen Regionen, Nationen und Kulturen. Die Erosion von Beziehungen ist ein globales Phänomen – und zugleich ein zutiefst persönliches. Und sie betrifft unsere Gesundheit – psychisch, emotional und sozial.

Globale Entfremdung – Wenn Vertrauen zwischen Nationen schwindet
Internationale Konflikte, Klimakrisen und wirtschaftliche Unsicherheit führen dazu, dass das Vertrauen zwischen Staaten schwindet. Die Zusammenarbeit wird schwieriger, das Miteinander brüchiger. Verschiedene aktuelle Studien zeigen, dass besonders junge Menschen weltweit unter Zukunftsängsten leiden – ein Spiegel globaler Beziehungskrisen. Die UNESCO schlägt Alarm: Die sozialen Bande unserer Gesellschaften geraten durch Migration, Urbanisierung und digitale Zersplitterung zunehmend unter Druck. Es gibt ein interessantes und aktuelles Gedankenexperiment, das vom US-amerikanischen Philosophen Andrew Bard Schmookler entwickelt wurde und als Gleichnis der Stämme (The Parable of the Tribes ) bekannt ist. Stellen Sie sich eine Gruppe von Stämmen vor, die nahe beieinander leben. Alle entscheiden sich für ein friedliches Miteinander, bis ein einziger Stamm beginnt, Macht und Gewalt auszuüben, um seine Ziele zu erreichen. Was geschieht mit den Stämmen, die Frieden suchen? Einer wird besiegt und vernichtet. Ein zweiter wird besiegt und unterworfen. Ein dritter flieht an einen abgelegenen und unzugänglichen Ort. Will der vierte versuchen, sich zu verteidigen, muss auch er auf Gewalt zurückgreifen. Er kommt zu dem tragischen Schluss, der so an die gegenwärtigen Ereignisse erinnert: «Die Ironie der Sache ist, dass die erfolgreiche Verteidigung einer Gesellschaft gegen einen machtbesessenen Angreifer voraussetzt, dass sie der Gesellschaft ähnlicher wird, die sie bedroht. Macht kann nur durch Macht aufgehalten werden – und das verändert alle.»

Es gibt, mit anderen Worten, vier mögliche Resultate:
1. Zerstörung
2. Unterwerfung
3. Rückzug
4. Nachahmung.

«Wenn ein System Macht belohnt, wird Macht zur Norm.» Das gilt auch für emotionale Beziehungen: Wer sich durchsetzt statt zuhört, wer kontrolliert statt vertraut, trägt zur Erosion bei.

«Bei jedem dieser Ergebnisse werden die Wege der Macht im System ausgeweitet. Dies ist das Gleichnis der Stämme.» Vergegenwärtigen wir uns, dass alle Stämme bis auf einen friedliebend waren und nicht den Wunsch hatten, Macht über ihre Nachbarn auszuüben. Bringt man jedoch einen einzigen gewalttätigen Stamm in die Region, wird die Gewalt schließlich die Oberhand gewinnen, wie auch immer die anderen Stämme darauf reagieren werden. Das ist die Tragödie des menschlichen Wesens. Diese Dynamik zeigt sich heute in geopolitischen Spannungen, Handelskriegen und dem Rückzug aus internationalen Verträgen. Die Welt gleicht zunehmend einem Spektakel: laut, aufgewühlt, polarisiert. Dabei verlieren wir das, was uns verbindet – die Kunst des Zuhörens und Verstehens.

Regionale Spaltung – Wenn Nachbarschaft zur Fremdheit wird
Auch innerhalb von Ländern bröckeln die Bindungen. Stadt und Land entfremden sich, kulturelle Identitäten werden zur Kampfzone, eine Krise der Verbundenheit ist spürbar, vielerorts überwiegt das Gefühl: Wir leben nebeneinander, aber nicht miteinander.

«Wenn man seine Beziehung zur Natur verliert, verliert man die Beziehung zu anderen Menschen.» Jiddu Krishnamurti

Diese Beziehungserosion wirkt sich direkt auf das psychische Wohlbefinden aus. Menschen, die sich nicht zugehörig fühlen, zeigen häufiger Symptome von Depression, Angst und sozialer Isolation.

Persönliche Beziehungserosion – Die stille Entfremdung im Alltag
Im Privaten ist die Erosion oft am schmerzhaftesten. Partnerschaften, Freundschaften und Familienbindungen leiden unter Zeitmangel, Stress und digitaler Ablenkung. Die Universität Bern fand heraus, dass die Beziehungszufriedenheit nach etwa zehn Jahren ihren Tiefpunkt erreicht – besonders um das 40. Lebensjahr. Untersuchungen von Bindungsforschern zeigen, dass negative Beziehungserfahrungen Bindungsangst verstärken und langfristig zu Vermeidung führen.

«Nicht die Abwesenheit der Liebe, sondern die Abwesenheit der Freundschaft macht die unglücklichen Ehen.» Friedrich Nietzsche

Auch Freundschaften und familiäre Bindungen leiden. Die Digitalisierung hat unsere Kommunikation beschleunigt, aber auch oberflächlicher gemacht. Likes ersetzen echte Worte, Emojis echte Emotionen. Wir scrollen durch das Leben anderer, während unser eigenes Beziehungsgeflecht langsam ausfranst. Eine Mutter berichtet, dass sie sich ihrem Teenager entfremdet fühlt, obwohl sie unter einem Dach leben. «Wir reden kaum noch. Ich weiß nicht, was ihn bewegt.» Diese Entfremdung ist kein Einzelfall – sie ist Teil eines größeren gesellschaftlichen Musters.

Alles hängt zusammen – Die Wechselwirkungen der Beziehungsebenen
Globale Konflikte beeinflussen regionale Spannungen. Regionale Spaltungen wirken sich auf das persönliche Miteinander aus. Und persönliche Entfremdung potenziert sich gesellschaftlich. Die Ebenen sind nicht getrennt – sie sind ineinander verwoben. Schmookler zeigt, wie sich die «Wege der Macht» durch alle Lebensbereiche ziehen – von internationalen Beziehungen bis zur Kindererziehung. «Wenn ein System Macht belohnt, wird Macht zur Norm.» Das gilt auch für emotionale Beziehungen: Wer sich durchsetzt statt zuhört, wer kontrolliert statt vertraut, trägt zur Erosion bei.

Was wir tun können – Strategien aus der Beziehungskrise
Beziehungserosion ist kein Schicksal. Sie ist ein Prozess – und Prozesse lassen sich beeinflussen. Hier sind einige wirksame Impulse für mehr Nähe und Verbundenheit:

1. Reden hilft – aber richtig
Regelmäßige Gespräche über Gefühle und Bedürfnisse stärken Vertrauen. Nutze Ich-Botschaften statt Vorwürfe und trainiere richtiges Zuhören.

2. Empathie zeigen
Versuche, dich in die Perspektive des anderen hineinzuversetzen. Höre aktiv zu – ohne zu unterbrechen.

«Empathie ist der Kitt zwischen Menschen.» Marshall Rosenberg

3. Zeit schenken
Qualität schlägt Quantität. Pflege bewusste Rituale wie zum Beispiel gemeinsames Essen oder gemeinsame Spaziergänge in der Natur. Fördere alles, was Nähe schafft.

4. Konflikte klären
Streit ist in unserer Welt normal – entscheidend ist, wie man ihn löst. Suche nach Lösungen, nicht nach Schuldigen.

5. Gemeinsam wachsen
Teile Ziele und Interessen. Gemeinsame Projekte stärken die Bindung und fördern Kreativität und Freude.

6. Sich selbst kennen
Selbstreflexion hilft, eigene Muster zu erkennen und zu verändern. Emotionale Intelligenz ist Beziehungskompetenz.

7. Beziehungspflege als Alltag
Nähe entsteht nicht von allein – sie braucht Aufmerksamkeit, Geduld und kleine Gesten.

«Beziehungen sind wie Gärten – sie brauchen Pflege, Geduld und Licht.» Unbekannt

Gesundheitspflege hat viel mit Beziehungspflege zu tun
Psychische Gesundheit ist nicht nur eine Frage individueller Resilienz – sie ist zutiefst sozial. Menschen brauchen Bindung, Zugehörigkeit und Vertrauen. Wenn diese Grundlagen erodieren, leidet nicht nur das Herz, sondern auch die Seele. Ob im Wohnzimmer, im Kinderzimmer, im Rathaus oder im UN-Sicherheitsrat: Beziehungspflege ist eine Aufgabe, die uns alle betrifft. Denn am Ende sind es nicht Systeme, die die Welt zusammenhalten – sondern Menschen. Und jede Beziehung, die wir stärken, ist ein Schritt in Richtung einer gesünderen, verbundenen Gesellschaft. Von Viktor Frankl stammt der Ausspruch: «Mensch sein heißt immer auch anders werden können.» Beziehungserosion ist kein plötzlicher Bruch, sondern ein stiller Prozess. Doch sie ist umkehrbar, wenn Partner bereit sind, sich selbst und die Beziehung ehrlich zu betrachten und aktiv zu gestalten. Sie kann sogar zur Chance für tiefere Verbundenheit und persönliches Wachstum werden. In der Hektik des Alltags verlieren wir oft den Blick für das, was uns einst verbunden hat. Beziehungen, die stark und lebendig waren, können durch kleine, kaum spürbare Veränderungen langsam erodieren – wie Felsen, die vom Meer umspült werden. Nicht durch einen Sturm, sondern durch das stetige Tropfen, das leise Flüstern der Routine, das Schweigen nach dem Streit. Unsere Liebe war vielleicht einst wie eine starke Mauer gegen den Rest der Welt, aus Vertrauen, Stein für Stein errichtet. Doch jeder unausgesprochene Gedanke, jede Enttäuschung, die wir hinunterschlucken, löst einen Stein. Und irgendwann stehen wir auf gegenüberliegenden Seiten. Oder sie war eine Kerze im Wind – warm, leuchtend, voller Hoffnung. Doch ohne Schutz, ohne neue Energie, flackert sie. Und wenn wir nicht aufpassen, erlischt sie leise, ohne dass wir es merken. Manche Beziehungen gleichen einem Garten, der einst in voller Blüte stand. Doch ohne Pflege, ohne Zeit füreinander, überwuchert das Schweigen die Farben. Was bleibt, ist ein verwildertes und trostlos anmutendes Feld voller Erinnerungen. Andere verlieren ihre Richtung – wie ein Kompass ohne Norden. Wir laufen zwar weiter, nebeneinander, aber nicht mehr gemeinsam. Und je länger wir gehen, desto fremder wird der Weg. Und manchmal rostet das, was uns einst verbunden hat – wie ein Schloss, das einst sicher war. Ohne Pflege funktioniert der Schlüssel rostbedingt nicht mehr. Nähe wird zu Distanz, Vertrautheit zu Fremdheit.

Was wir daraus lernen können
Überlassen wir unsere Beziehungen nicht dem Wind der Gleichgültigkeit. Setzen wir dem zum Beispiel die bekannte «Goldene Regel» entgegen: «Behandle dein Gegenüber so, wie du selbst behandelt werden möchtest» – mit Respekt, Mitgefühl und Offenheit. Lasst uns starke Mauern aus Vertrauen wieder aufbauen, Kerzen neu entzünden, Gärten frisch bepflanzen. Denn wo zwei oder drei in Liebe verbunden sind, ist auch Hoffnung. Und was wir mit Herz und Hingabe pflegen, kann wieder aufblühen – wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen, dessen Blätter nicht welken.

Ich möchte einmal die Anfangsszene dieses Artikels umkehren und die Auswirkungen beachten: Zwei Menschen sitzen nebeneinander auf dem Sofa. Ihre Smartphones liegen unbeachtet auf dem Tisch. Stattdessen reden sie – über den Tag, über Träume, über das, was sie bewegt. Ein Blick, ein Lächeln, ein echtes Zuhören. Was einst Routine war, ist wieder Nähe geworden – und irgendwann Verbundenheit. Dieses stille Wiedererwachen und Heilen von Beziehungen ist ein grundmenschliches Bedürfnis – und zugleich ein zutiefst persönlicher Akt. Und es stärkt unsere Gesundheit – psychisch, emotional und sozial.


1 Andrew Bard Schmookler, The Parable of the Tribes: The Problem of Power in Social Evolution (Berkeley, University of California, 1984).
2 Bühler, J. L., Krauss, S., & Orth, U. (2021). Development of relationship satisfaction across the life span: A systematic review and meta-analysis. Psychological Bulletin.

 

 

 

 

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